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Erika Riemann:
Bericht einer gestohlenen Jugend
Erika Riemann beschreibt in "Die Schleife an Stalins Bart" ihr schicksalhaftes
Leben
Langsam, fast bedächtig, betritt die ältere Dame das Podium. Die
fast 74 Lebensjahre sind ihr nicht anzusehen, sie wirkt wie Mitte 50. Selbstsicher stellt sie sich knapp
vor, geht dann in medias res. Die Schriftstellerin Erika Riemann trägt aus ihrem Buch "Die Schleife an
Stalins Bart" vor.
Rund 80 Gäste sind dem Ruf des Kulturklubs ins Bündheimer Schloss gefolgt. Sie lauschen gebannt
den Ausführungen der Autorin. Langsam, wie sie eben die Bühne betrat, liest sie vor. Immer noch
sichtlich betroffen, von dem, was sie einst erlebte: Erika Riemann wird als 14-Jährige im Sommer 1945
von der russischen Armee verhaftet. Sie hat bei der Besichtigung ihrer gerade wieder hergerichteten Schule
im thüringischen Mühlhausen einem Stalin-Bild eine Schleife um den Schnauzbart malt.
Die Stille im Rittersaal ist eindrucksvoll. Einzig die Autorin ist zu hören. Ergreifend gibt sie mit
zerbrechlicher Stimme Zeile um Zeile wieder, schildert ihre Festnahme und die nie enden wollenden
Verhöre. Erschüttert und erschütternd beschreibt sie den nächtlich wiederkehrenden
Wahnsinn. Sie wird geweckt und todmüde ins Verhörzimmer gebracht bis sie sich nahezu aufgibt. "Es
scheint ohnehin alles egal." Doch etwas in ihr hält sie am Leben.
Verurteilt zu acht Jahren Sibirien durchlebt die Schriftstellerin eine Odyssee durch Lager und
Zuchthäuser mit Prügel, Schikanen, Hunger und Depressionen. Dann endlich, 1954, wird sie
entlassen, darf in die Bundesrepublik. Doch das Buch erzählt ihre ganze Lebensgeschichte, bis zu dem
Zeitpunkt vor drei Jahren als sie - noch mit 70 wegen Geldmangels arbeitend - sich endlich aus der Mauern
des Schweigens und der Verdrängung befreien kann. Und so schließt Riemann ihren Lesepart auch
mit diesem letzten Kapital.
Nicht ganz eine Stunde dauert die Lesung aus der jüngsten deutschen Vergangenheit. Die Erzählung
einer gestohlenen Jugend. "Man hat mir meine Pubertät genommen", sagt die 73-jährige während
der abschließenden Diskussion, nachdem sie zuvor geduldig eine halbe Stunde lang Bücher
signierte.
Ein unbedingtes Muss zur deutschen Geschichte, das leider getrübt wurde durch eine teilweise
schlechte Akustik. Auch versäumte der Kulturklub, die Autorin einzuführen und durch den Abend zu
geleiten. Ein Umstand, auf den Erika Riemann gleich zu Beginn augenzwinkernd hinwies. Hoffentlich ist es
angekommen.

Erschüttert und erschütternd beschreibt Erika Riemann, wie ein Streich vom Sommer 1945 ihr Leben
nachhaltig verändert.
Foto: Jörg Ziegler, Goslarsche Zeitung |
Artikel: Jörg Ziegler
GZ von Mo., 07.06.2004 |
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